Atterseee

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Auszug Kapitel 4.1 von Harald Bichlmeier: "Zum Namen des Attersees" aus dessen → verschollener Literatur (gibt es in keiner deutschen Bibliothek); mit Hervorhebungen hinsichtlich Pfahlbauern:

Bichlmeier, Harald: Zu den Grenzen der Erkenntnismöglichkeit der Forschungen alten Stils zur alteuropäischen Hydronymie: überholte sprachwissenschaftliche Konzepte und Mythenbildung – dargestellt anhand von Gewässernamen aus Bayern und Österreich: Attersee und Sinn (Bayerisch-österreichische Orts- und Gewässernamen aus indogermanischer Sicht, Teil 4: Atterseee und Sinn)
In: Janka, Wolfgang / Harnisch, Rüdiger (Hrsgg.): Namen in Grenzräumen. (7. Koll. des Arbeitskreises für bayerisch-österreichische Namenforschung, Passau, 27./28.9.2012). Regensburger Studien zur Namenforschung 9, edition vulpes 2014[2015], S. 9-33.



Zum Namen des Attersees

"Der Name des Attersees (um 800 [Kopie des 12. Jh.s] Atersẽ) 14 wird gewöhnlich mit einem altiranischen, genauer einem jungavestischen Lexem zusammengestellt, nämlich jav. aδu-.15 Die Zusammenstellung erfolgt letztlich noch immer in der Weise, wie sie auch IEW, S. 4 unter dem Lemma ad(u)-, ad-ro- ‘Wasserlauf’ kodifiziert ist:

  • „Avest. aδu ‘Wasserlauf, Bach, Kanal’, ven.-ill. FlN Ad(d)ua (zum Po), *Adulḭa > Attel (zur Donau in Bayern), Mons Adulas ‘St. Gotthard’ (wohl nach den dort entspringenden Flüssen benannt), der oberösterr. FlN *Adra > Attersee, Attergau, FlN Adrana > Eder (Hessen), vielleicht auch der ON Adria in Venetien (danach das mare Adriaticum), der sizil. FlN Αδρανός und der ven.-ill. Name der Oder Οντ-αδονας; ferner der lett. FlN Adula.“
  • Für Attersee, Attergau wird also von einer Vorform *Adra ausgegangen,16 weitere mutmaßliche Anschlüsse werden geboten.

Diese Zusammenstellung, die sich natürlich noch ergänzen lässt,17 weist indes einige Probleme auf, auf die nun eingegangen werden soll. Es stellen sich folgende Fragen, die bislang entweder keine Rolle gespielt zu haben und folglich auch nicht beantwortet worden zu sein scheinen:

  1. Wie breit ist eigentlich die Basis für den allgemein angenommenen Bedeutungsansatz ‘Wasserlauf’ o. ä. für jav. aδu- etc.?
  2. Wie muss man sich das gegenseitige morphologische Verhältnis von *ad-u- und *ad-ro/ā- eigentlich vorstellen?
  3. Kann man eigentlich eine ordentliche Etymologie erstellen, die den heutigen Maßstäben der Indogermanistik entspricht und nicht auf dem Vorkriegsstand Pokornys verharrt?

Zum Aussagewert des altiranischen Materials

Kommen wir zur ersten Frage, nämlich zur Basis des Bedeutungsansatzes für das altiranische Lexem:18 Für das altiranische Lexem, das ja als einziges überhaupt unmittelbare Rückschlüsse auf die Bedeutung zulassen kann, da es nicht nur in onymischem Kontext, sondern auch appellativisch auftritt, gibt es genau drei Belege: zwei avestische, die hapax legomena jav. Nom. Pl. aδauuõ (Yašt 8, 29) und jav. aδutauuẩs(ca) (Yašt 19, 6), letzteres ein Attribut eines Bergs oder ein Bergname, sowie im Altpersischen den Monatsnamen ap. ãdukan(a)iša- (DB II, 69), der besonders in der elamischen Nebenüberlieferung häufig bezeugt ist und dort verschiedene Stammbildungen aufweist.19 Aus diesen Belegen kann man zunächst einmal auf eine Vorform uriran. *(H)adu- schließen (Genaueres s. u. Kap. 3). Die Bedeutung dieses Worts wird man zuerst aus seiner einzigen appellativischen Verwendung als Simplex zu gewinnen suchen. Es gibt hierzu zwei widerstreitende Meinungen: Die eine geht von jav. āδu- ‘Getreide, Ernte’ aus, die andere von aδu- ‘Kanal’ o. ä. Der Bergname weist im Hinterglied nach Ansicht der meisten Forscher das Substantiv tauuah- ‘Stärke, Macht’ auf. Allerdings wurde auch zurückhaltend erwogen, ob hier nicht vielmehr eine possessivische Adjektivableitung auf uriran. *-ṷant- zu einem Substantiv *aδutā- ‘network of canals’ vorliege, da die Entsprechung zu ai. tavas- ja aav. teuuiš° (Yasna 29,1) und eben nicht *tauuah- ist.20 Die Vertretung von uriran. *(H)adutāuants-ca als jav. aδutauua°s(ca) wäre jedenfalls regulär.21 An der grundlegenden Auffassung von uriran. *(H)adu- als ‘Kanal’ o. ä. würde dies aber nichts ändern.

Der Monatsname im Altpersischen kann im Hinterglied theoretisch eine Ableitung von folgenden Wurzeln aufweisen: uriran. *kan-1 ‘werfen, setzen, stellen, zerstören’22, uriran. *kan-2 ‘füllen’23 oder uriran. *kanH- ‘graben’24 < uridg. *kenh1- ‘graben’25.26

Bedauerlicherweise finden sich bislang in den etymologischen Wörterbüchern zum Iranischen (etwa im ỂSIJa 1) keine Angaben zu diesem Lexem. Da es kein Pendant dazu im Indoarischen zu geben scheint, sind in etymologischen Wörterbüchern zum Indischen derartige Angaben ebenfalls nicht zu erwarten.

Das Bergattribut resp. der Bergname ist zunächst ohne Erkenntniswert, ein Berg kann ‘stark/mächtig durch/an Getreide’ oder ‘stark/mächtig durch/an Kanäle(n)’ o. ä. sein, wenngleich hier auch schon eine Interpretation des Vorderglieds, die in Richtung einer Bedeutung ‘Wasserlauf’ o. ä. im weitesten Sinne geht, wahrscheinlicher scheint.

Bei dem altpersischen Monatsnamen sind – mit einem Lexem ‘Getreide’ verbunden – v. a. die ersten beiden Lexeme sinnvoll, es ergäbe sich also etwa ‘Monat des Getreide-Werfens’ bzw. ‘-Worfelns’, vielleicht auch ‘Monat der Aussaat’. Allerdings steht dem entgegen, dass dieser Monat sicher einen Frühlingsmonat meint, den ersten Monat des altpersischen Kalenders, wohl März-April,27 einen Monat also, in dem normalerweise weder gesät noch geworfelt wird. Folglich neigt sich auch hier die Waagschale zum Wasserlauf. Vorgeschlagen wurde als Bedeutung ‘Monat der Kanalreiniger’ (Justi) oder ‘Monat der Kanalreinigung’ (Schmitt),28 wobei letzteres klar die besseren Argumente für sich hat.

Bei dem einzigen Beleg für das Wort als Simplex in appellativischer Verwendung, us võ apam aδauuõ … jasẩnti (Yašt 8, 29), dürfte trotz diverser Versuche, es als ‘Ernte, Getreide’ zu deuten, aufgrund des daneben stehenden Attributs im Gen. Pl. (apam ‘Wasser’) eher mit einer Bezeichnung wie ‘Kanal, Wasserlauf’ o. ä. zu rechnen sein.29 Falls es sich bei dieser Pluralform nicht um eine inneriranische Neuerung handelt, kann man vielleicht ein Paradigma uriran. *(H)ad-u-š, Nom. Pl. *(H)ad-au-ah erschließen, wobei aber wohl schon auf dieser Ebene angenommen werden müsste, dass der Wurzelvokal der starken und schwachen Kasus ausgeglichen worden ist.

Denkbar sind bei den u-Stämmen theoretisch folgende Ablautparadigmen: Ein ursprünglich proterokinetisches Paradigma uriran. Nom. *Hẚd-u-, Gen. *Hd-ẚu-h, ein amphikinetisches uriran. Nom. *Hẚdu-, Gen. *Hd-ẚu-h oder ein hysterokinetisches uriran. Nom. *Hd-ẚu-, Gen. *Hd-u-ẚh, wobei letzteres dann im ganzen Paradigma sekundär die vollstufige Wurzel eingeführt haben müsste. Die beiden erstgenannten Typen kommen für unser Lexem in Frage und sind im Avestischen gut bezeugt. Aus dem uns vorliegenden Material kann zwischen den beiden Möglichkeiten keine Entscheidung getroffen werden. Zudem scheint bei den u-stämmigen Nomina im Avestischen grundsätzlich die Vollstufe in der Wurzel durchgeführt worden zu sein. Ausnahme ist hier das neutrale Substantiv jav. dãuru, Gen. draoš, das genau ai. dãru, droh ‘Holz’ entspricht und die alte proterokinetische Flexion fortsetzt. Diesem Lexem liegt uridg. Nom. *dor-u, Gen. *dr-eu-s zugrunde. Es handelt sich um ein typisches Neutrum, das o-Stufe in den starken Kasus, Schwundstufe in den schwachen zeigt. Da es sich bei jav. aδu- nach Auskunft des bezeugten Nom. Pl. aδauuō aber um eine maskuline oder feminine Form handeln muss, dürfte dieser Typ ausscheiden.30

Bei den Adjektiven sind noch solche Reste von Bildungen zu finden, die zumindest für Teile des Paradigmas die zunächst zu erwartende Schwundstufe zeigen: so etwa jav. vouru- ‘breit’, ai. uru- ‘dss.’ < uridg. *urH-u-.31

Zur Gestalt der urindogermanischen Vorform

Nachdem nun kurz dargestellt worden ist, was aus dem iranischen Material selbst geschlossen werden kann, sei nun versucht zu ergründen, was über die indogermanische Etymologie gesagt werden kann.

Eine vollständige Etymologie, die über das bei Bartholomae Gesagte32 oder den o. a. Ansatz im IEW als *ad-u- / *ad-ro- hinausginge, gibt es m. W. nicht. Aus dieser Andeutung Bartholomaes, die im Folgenden genauer betrachtet werden soll, ergeben sich freilich gewichtige Folgerungen und Folgen.

Doch bevor auf diese genauer eingegangen werden soll, seien einmal die grundsätzlichen Möglichkeiten zur Etymologisierung von jav. aδu- bzw. ap. adu° durchgespielt: Ausgehend von den oben dargelegten gesicherten Annahmen für das Urindogermanische und unter Berücksichtigung unseres Wissens darum, dass die urindogermanischen Laryngalphoneme auf dem Weg ins Uriranische in ein Phonem *H zusammengefallen sind, kann man als Vorform unseres Lexems uriran. *(H)adu- ansetzen und in uriran. *(H)ad-u- segmentieren. Uriran. *(H)ad- kann nun weiter auf uridg. *Hed(h)(H)-, *Hod(h) H/K- oder *(H)Nd(h)(H)-, die schwundstufige Form von Wurzeln der Gestalt uridg. *(H)n/med(h)(H)-, zurückgehen. Es kommen somit theoretisch mehrere Dutzend im Urindogermanischen wohlgeformte (d. h. strukturell zulässige) Wurzeln in Frage. Glücklicherweise sind bei Weitem nicht so viele Varianten durchzuspielen, da nicht jede potentiell mögliche Wurzel auch belegt ist. Alter o-Vokalismus in der Wurzel ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, dass keine offene Silbe vorlag, da im Falle einer offenen Silbe (wie oben schon erwähnt) die Dehnung des Vokals zu erwarten gewesen wäre, oder wenn man paradigmatischen Ausgleich nach Stammformen annimmt, die ursprünglich nicht o-stufig waren. In dem Falle wären zunächst folgende sicher bezeugten verbalen Wurzeln der Struktur *Hed(h) zu nennen:

a) *Hed(h)< - ‘sagen’ 33

b) *h1ed- ‘essen’ 34

c) *h1edh - ‘spitz, stechen’>sup>35

d) 1.*h2ed- ‘vertrocknen’36

e) 2.*h2ed- ‘festsetzen, ordnen’: air. ada ‘gesetzlich’, urkelt. *ad(u)- ‘Gesetz’ 37

f) 1.*h3ed- ‘zu riechen beginnen’38

g) 2.*h3ed- ‘in Hass geraten’39

Von diesen Wurzeln kämen vielleicht *h1ed- ‘essen’ (falls sich bereits in früher Zeit eine semantische Entwicklung ‘essend’ → sich durch das Gestein fressend’‘Bach, Kanal‘ ereignet haben sollte), *h2ed- ‘vertrocknen’ (für zeitweise trocken fallende Bäche, Kanäle) und 1.*h3ed- ‘zu riechen beginnen’ (für langsam fließende oder stehende Gewässer?) in Frage. So recht überzeugen diese aber alle nicht [Realprobe? vgl. Fußnote 46] – und sie lassen sich auch schlicht nicht beweisen.

Was nun weiters den möglichen Ansatz uridg. *(H)Nd(h)(H)- angeht, so kommen hier mindestens die folgenden, auch sonst gut bezeugten Wurzeln in Frage:

a) *mad-/*med-/*meh2d- ‘nass sein/werden’40 (der Stammansatz ist nicht ganz klar)

b) 1.*med- ‘messen, für Einhaltung sorgen’41

c) 2.*med- ‘voll werden, satt werden’42

d) *Hnedh- ‘binden’43

e) *h1nedh- ‘hervorkommen’44

f) *ned- ‘tönen, dröhnen’45

Von diesen fünf Wurzeln scheiden aus semantischen Erwägungen wohl b), c) und d) unmittelbar aus. Bei der ersten, uridg. *mad-/*med-/*meh2d- ‘nass sein/werden’ entsteht letztlich ebenfalls wieder ein semantisches Problem, ein zugehöriges schwundstufiges u-Adjektiv uridg. *m(h2)d-u- dürfte wohl einfach nur ‘nass’ bedeutet haben. Man müsste hier folglich eine Bedeutung ‘nass’ → ‘nasses Ding’ → ‘Graben, Kanal’ annehmen, was allerdings nicht gerade eine besonders plausible Entwicklung darstellt. Bei *ned- ‘tönen’ ergeben sich vergleichbare semantische Schwierigkeiten, denn das Lautsein ist für Kanäle sicher nicht gerade ein typisches Benennungsmotiv [?]. Sollte indes die für jav. aδu- ebenfalls bereits erwogene Bedeutung ‘Sturzbach’ das Richtige treffen, läge hier eine durchaus sinnvolle Verknüpfung [!] vor.46

Also bleibt als letzte aus dieser Gruppe wohl uridg. *h1nedh- ‘hervorkommen’ übrig. Und hier kommt nun eine Idee ins Spiel, die Bartholomae 1904, Sp. 57, angedeutet hat:

Nach Bartholomae ist jav. aδu- vielleicht zu aav. aduuan-, jav. aδβan-, ai. adhvan- m. ‘Weg’ zu stellen. Dieses wird aber nun seit einigen Jahrzehnten als Heterokliton uridg. *h1ndh-ur/-uen- rekonstruiert.47 Weiters zugehörig wäre gr. ένθειν Aor. ‘kommen’ (< *h1ndh-e/-).48 Der Weg wäre somit das, worauf man (an)kommt o. ä. Das zu dieser Wurzel gehörige Perf. gr. hom. ενηνοθε ‘quillt hervor’ zeigt demgegenüber schon eine semantische Weiterentwicklung, die für unseren Fragenkomplex interessant sein könnte.

Die Zugehörigkeit des traditionell mit gr. ένθείν 49 verknüpften aisl. ondurr ‘Schneeschuh’ < urgerm. *andura- < uridg. *h1ondh-ur-o- wird nun wieder angezweifelt.50 Eine Begründung wird dabei nicht genannt, problematisch bleibt bei dieser Etymologie aber in jedem Falle auch die noch nicht ordentlich erklärte Vollstufe 1 in dieser Ableitung.

Falls nun jav. aδu-, aδu°, ap. adu° in der Tat zu aav. aduuan-, jav. aδβan, ai. adhvan- m. ‘Weg’ zu stellen sein sollten, müsste noch die morphologische Struktur, die gegenseitige Beziehung der beiden Etyma und schließlich die ursprüngliche Bedeutung des iranischen Worts geklärt werden.

Zu überlegen wäre, ob ai. adhvan- nicht seine Entstehung einem alten Lokativ Singular *h1ndh-u-en verdankt, der dann zu einem n-Stamm uminterpretiert worden ist. Vergleichbare Fälle von Bildungen von sekundären n-Stämmen zu u-Stämmen lassen sich durchaus finden (vgl. gr. όδυνη < *h1od-un-eh2-).51 Das ansonsten angesetzte Heterokliton ist nur indirekt bezeugt, auf -r- endende Formen kommen v. a. in der Komposition und Derivation vor, vgl. etwa ai. adhvara- m. ‘Opfer, Somaopfer, Zeremonie’, adhvaryu- ‘Opferpriester’ u. ä.52

Unter diesen Voraussetzungen könnte also ein proterokinetisches u-stämmiges Paradigma uridg. *h1nedh-u-, *h1ndh-eu- ‘das Hervorkommen’ (→ ‘die Quelle’?) oder ein Adjektiv uridg. *h1ndh-u- ‘hervorkommend’ rekonstruiert werden. Für diese Erklärung würde vielleicht auch die einzige Textstelle mit appellativischer Verwendung des Lexems sprechen, Yašt 8, 29:

us vo apam aδauuō apaiti.ɘrɘta° jassanti

"Ungehindert werden Euch die Bäche von Wasser hervorkommen.“53

In beiden Fällen der Herleitung, sei es nun aus einem Substantiv oder einem ursprünglichen Adjektiv, mag sich aus der Grundbedeutung des Hervorkommens etwas wie ‘Quelle’ entweder durch Übergang zum Konkretum oder durch Substantivierung entwickelt haben. Diese Bezeichnung kann dann vielleicht im weiteren Verlauf der Entwicklung auch auf den von der Quelle wegführenden Wasserlauf, ggf. dann auch auf Kanäle übertragen worden sein.

Sollte diese Etymologie zutreffen, gilt dasselbe wie für alle Etymologien, die von einer nasalhaltigen Wurzel ausgehen: Man könnte für jav. aδu-, ap. adu- zwar die Bedeutung ‘Quelle’ → ‘Kanal’ o. ä. problemlos herleiten und begründen, die altiranischen Lexeme wären jedoch auf jeden Fall von den sonst dazu gestellten Gewässernamen in Europa zu trennen. Diese erfordern notwendig eine Vorform späturidg./alteurop. *ad-, die aus der für das altiranische Lexem rekonstruierten Form uridg. *h1ndh- nach allem, was wir wissen, nicht hätte entstehen können: Uridg. *h1ndh- hätte je nach Region und weiterer lautlicher Umgebung zu †And-, †End-, †Ind-, †Ond-, †Und- geführt, hätte also in jedem Falle einen Nasal enthalten.

Lehnt man diese gerade vorgestellte Etymologie für jav. aδu- etc. ab und will einen Zusammenhang mit den europäischen Flussnamen erhalten, muss entweder eine der drei oben genannten Wurzeln (‘essen’, ‘vertrocknen’, ‘riechen’) als Grundlage der Ableitung angenommen werden oder eine weitere Wurzel der Gestalt *Hed(h))- – aber nota bene (vorläufig) unbekannter Bedeutung! – angesetzt werden. Die im Iranischen belegten Bildungen würden dann immer eine e-stufige Form erfordern (da die o-Stufe zur Dehnung des Stammsilbenvokals zu *- ā- geführt hätte — es sei denn, es hätte sich doch, wie oben angedeutet, um eine Wurzel ultimae laryngalis, also *Hed(h)H- gehandelt), die mitteleuropäischen Gewässernamen können dann – den weit verbreiteten Wandel *o > *a vorausgesetzt – je nach Laryngal auf eine e-stufige Wurzelform (bei anlautendem *h2- bzw. *h3-) oder auf eine o-stufige Bildung (mit beliebigem anlautendem Laryngal) zurückgehen. Möglich sind somit uridg. *h2/3ed(h)(H)- oder *h1/2/3od(h)(H)-.

Aber aus dieser Prämisse ergibt sich unmittelbar ein Problem der Wortbildung: Wie oben schon nebenbei angeführt, zeigen u-stämmige Substantive meist ablautende Paradigmen (also in der Regel je nach Kasus eben Schwund- oder Vollstufe in der Wurzel), u-stämmige Adjektive hingegen in der Regel die Schwundstufe in der Wurzel. Primäre ro-Bildungen zeigen fast ausnahmslos eine schwundstufige Wurzel. Diese Regularitäten werden bei den uns vorliegenden Lexemen augenscheinlich zum Problem, da die bezeugten Bildungen im Falle der Gewässernamen nur dann ursprünglich schwundstufig gewesen sein könn(t)en, falls hier der anlautende vorkonsonantische Laryngal vokalisiert worden wäre, also gälte: uridg. *Hd(h)(H)-u/ro- > alteurop. *ad-u/ro-. Eine solche Entwicklung ist zwar nicht gänzlich unmöglich, wie ein Blick auf das Lateinische lehrt, wo nach jetzt allgemeiner Ansicht anlautender Laryngal zumindest vor Doppelkonsonanz, wobei der erste Konsonant des Clusters ein Verschlusslaut sein musste, zu a- vokalisiert wurde.54 Solches wäre zumindest bei einer Wurzel ultimae laryngalis immer der Fall; bei einem Rekonstrukt uridg. *Hd(h)-ro- wäre diese Situation ebenfalls in jedem Fall gegeben, bei *Hd(h)-u- immerhin bei vokalisch anlautenden Endungen, vgl. etwa den Gen. *Hd(h)-u-es eines hysterokinetischen Paradigmas.

Sollten sich für die Vokalisierung von *#H > a / _K(K)- aber nicht noch eindeutige Beispiele finden lassen, wird man konstatieren müssen, dass zumindest für die ro-Bildungen des Typs *ad-ro/ā- die dann zwangsläufig anzunehmende ursprüngliche Vollstufe der Wurzel problematisch bleibt. Sie müsste sich dann einem sekundären Wortbildungsvorgang verdanken, am ehesten einer Vrddhi-Ableitung zum regulären ro-Adjektiv, etwa der Gestalt: *Hd(h)-ro- → *Hed(h)-ro-. Sollte dies der Fall sein, würde dies die Anzahl der möglichen Wurzeln auf solche einschränken, die mit *h2- oder *h3- anlauten, da das bezeugte anlautende (alteurop.) A- nur auf spätidg. *o- < uridg. *h3e- oder spätidg. *a- < uridg. *h2e- (oder spätidg. *a- < uridg. *Ha-)55 zurückgehen kann. Für diesen theoretisch denkbaren Ableitungsmechanismus wären aber erst noch Parallelfälle (möglichst aus der Hydronymie) zu suchen und zu finden.56

Zuletzt sei noch ein weiteres Problem angesprochen: Bei den angeführten Bildungen zeigen die Sprachen mit besserer Beleglage klar, dass tendenziell entweder ein ro-Adjektiv oder ein u-Adjektiv zu einer Wurzel gebildet wird. Beide Bildungen zu einer Wurzel liegen nur selten gleichzeitig in einer Sprache vor. Dies ist natürlich nur als eine Tendenz zu begreifen, die einzelsprachlich durchaus durchbrochen sein kann. Besonders in recht gut bezeugten Sprachen wie dem Vedischen oder dem Griechischen finden sich dafür durchaus Beispiele. Aus dem westindogermanischen Bereich sind solche Fälle m. W. kaum zu belegen.

Fasst man das Ganze nun zusammen, wird man um die Erkenntnis nicht herumkommen, dass die traditionelle Zusammenstellung von mitteleuropäischen Gewässernamen, die ein Element *ad- enthalten, mit jav. 'aδu- ‘Bach, Kanal’ o. ä. etc. alles andere als fundiert ist. Mit diversen Zusatzannahmen – v. a. der, dass die beiden Lexeme außerhalb jeglicher weiterer etymologischer Verknüpfungen stünden und man weder die Wurzelgestalt noch die Wurzelbedeutung exakt bestimmen könnte – bleibt sie möglich. Gute Etymologien sehen wahrlich anders aus.

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass für einige der gewöhnlich hierher gestellten Gewässernamen, wie etwa den der Oder (< *A/Od(a)rā o. ä.),57 mittlerweile ohnehin auch andere Etymologien vorgestellt wurden58."

Anmerkungen und Literaturverzeichnis

14 Vgl. dazu jetzt DGNB, S. 43 f.

15 Diese wird bisweilen auch falsch als adu- zitiert.

16 Vgl. Udolph 1990, S. 210 f.; ANB, S. 49 f.

17 Vgl. etwa Udolph 1990, S. 204–211 (mit Darstellung älterer Vorschläge). – In jenem Zusammenhang wird auch auf einen Vorschlag W. P. Schmids (vgl. Schmid 1985, S. 386 f.) verwiesen, auch das Wort ai. adri- m. ‘Fels’ mit der hier diskutierten Sippe zu verbinden. Die eigentliche Etymologie bleibt er indes schuldig, die angeführten Parallelbeispiele sind nicht stichhaltig, die Semantik bleibt ein Problem: Man müsste in diesem Falle dem Suffix ai. -ri- die Bedeutung einer Zugehörigkeitsbildung beimessen (was es sonst nicht hat), dann wäre ‘Fels’ der ‘zum Wasser gehörige’ o. ä. Vielmehr sind aber -ri-Stämme sonst (ggf. sekundär konkretisierte) Abstrakta zu ro-Adjektiven (vgl. das schon bei Schmid a. a. O. zitierte gr. ακρις f. ‘Bergspitze, Gipfel’ neben gr. ακρος ‘hoch, höchst, spitz’), d. h. ai. adri- dürfte dann niemals ‘Fels’ (< ‘der zum Wasserlauf gehörige, aus dem Wasserlauf (störend) herausragende’ o. ä.) bedeuten, sondern (vorausgesetzt, dass *adro- wirklich ‘Kanal, Wasserlauf; feucht’ o. ä. bedeutet hat) eher ‘Kanalsystem; Feuchtigkeit; Wasser-/Sumpfgebiet’ o. ä. – da wüsste man schon gern, was das ro-Adjektiv bedeutet haben soll, wenn Bildungen wie alteurop. *adrā- u. ä. eben eine Bedeutung ‘Wasserlauf’ o. ä. zugeschrieben wird. — Angesichts dessen erscheint eine Etymologie von ai. adri- m. als *a-dr-i- ‘nicht zersplitternd’ (< uridg. */n-dr(H)-i- ‘keine Zersplitterung habend’) zu ai. dar(i) - ‘zersplittern, zerspalten’ (vgl. EWAia 1, S. 65, 701–703) doch wesentlich ansprechender.

18 Bartholomae 1904, S. 57, 61; Justi 1897, S. 245 f.: ap. ādukani ‘Monat der Kanalgrabenden’, av. aδutauuah - ‘mächtig an Quelladern’ (Yašt 19, 6).

19 Vgl. Schmitt 2006, S. 202 f., 208 f.

20 Vgl. Humbach/Ichaporia 1998, S. 77 f. – Dieser etymologische Vorschlag erfolgt ohne Verweis auf Eilers 1988 [1954], S. 278, 326 Anm. 81, wo dieser Vorschlag ebenfalls schon, wenngleich auch mit „(??)“ versehen, gemacht wurde.

21 Hintze 1994, S. 406, referiert nur die früheren Vorschläge, wobei sie alle mit mindestens einem Fragezeichen versieht, legt sich selbst dabei aber nicht fest.

22 Vgl. EDIV, S. 229–231.

23 Vgl. ebd., S. 232.

24 Vgl. ebd., S. 232 f.

25 Vgl. LIV², S. 344.

26 ESIJa 4, S. 199–214, behandelt die vorgenannten Wurzeln gemeinsam und lehnt S. 200 die Aufspaltung laut EDIV ab. Weitere Wurzeln der Gestalt uriran. *kan-, wie etwa *kan- ‘jemandem geneigt sein, jemanden lieben’ (S. 216 f.) oder *kan- ‘singen, tönen’ (S. 217) dürften für den Monatsnamen nicht in Frage kommen.

27 Vgl. Schmitt 1983.

28 Vgl. dazu Schmitt 2003, S. 42.

29 Man vgl. dazu die diversen Übersetzungen zu dieser Textstelle Yašt 8, 29: us vo apam aδauuo apaiti.ereta jasa°nti: Oettinger 1983, S. 141: „Ungehindert werden Euch die Bäche von Wasser hervorkommen.“ aδu- gilt ihm eher als Bezeichnung natürlicher Wasserläufe. – Panaino 1990, S. 117:
vo apam aδauuo „your water-channels“. – Swennen 2004, S. 379: aδauuo zu āδu- „graine, récolte“ unter Verweis auf Emmerick 1966, S. 1–7: „Les récoltes de vos eaux croîtront, irréstables, ...“. – Pirart 2006, S. 89: „Jusques à vous les canaux d’irrigation vont arriver sans que rien puisse les freiner, ...“. – Pirart 2010, S. 102: „Les canaux d’irrigation, sans que rien ne puisse les freiner vont amener ...“.

30 Das theoretisch denkbare Paradigma wäre ein akrostatisches gewesen und hätte uridg. *Hod-u, Gen. *Hed-u-s > uriran. *Hadu, *Haduš gelautet. Zudem wäre im Falle von altem wurzelhaftem *-o- iran. *-a- als Reflex des Vokals in offener Silbe zu erwarten gewesen.

31 Vgl. zu den avestischen u-Stämmen Hoffmann/Forssman 2004, S. 129–132. Zu den verschiedenen Typen der u-Stämme im Urindogermanischen vgl. ausführlich Neri 2003, S. 45–114; grundlegend nun Lindner 2011–2013, S. 70–74.

32 Vgl. Bartholomae 1904, Sp. 57, 62.

33 Vgl. LIV², S. 222.

34 Vgl. ebd., S. 230 f.; NIL, S. 208–220; IEW, S. 287–289.

35 Vgl. IEW, S. 289 f.; EWAhd 1, S. 389–391, s. v. atuh.

36 Vgl. LIV², S. 255.

37 Vgl. IEW, S. 3; EDPC, S. 26; LEIA, S. A–12 f.

38 Vgl. LIV², S. 296; IEW, S. 772 f.

39 Vgl. LIV², S. 296; IEW, S. 773.

40 Vgl. LIV², S. 421; IEW, S. 694 f.

41 Vgl. LIV², S. 423; IEW, S. 705 f.

42 Vgl. LIV², S. 423 f.; IEW, S. 694 f., 706.

43 Vgl. LIV², S. 227; IEW, S. 758.

44 Vgl. LIV², S. 249; IEW, S. 40 f.

45 Vgl. LIV², S. 448; IEW, S. 759.

46 Unabhängig davon mag diese Wurzel natürlich einer ganzen Reihe von europäischen Flussnamen zugrunde liegen, die eine Vorstufe *ne/od- erfordern. Problematisch bleibt weiterhin der Zusammenhang zwischen dieser Wurzel und der, die nhd. nass < ahd. naʒ zugrunde liegt: Dieses Wort ist auf urgerm. *nata- zurückzuführen, dem dann uridg. *(H)nod-o- zugrunde liegen müsste (vgl. Heidermanns 1993, S. 422; Kluge/Seebold 2002, S. 646; 2011, S. 649). Will man hier weder mit einem Substratwort rechnen noch mit verwegenen semantischen Entwicklungen, liegt hier wohl eben eine Wurzel uridg. *(H)ned- ‘nass’ vor, die dann ebenfalls in den erwähnten Flussnamen stecken kann. Auch hier hätte man dann wieder einen Fall vorliegen, in dem man dann allenfalls durch Realprobe eine Lösung als wahrscheinlichere bezeichnen kann: Wenn ein Fluss sich im Flachland dahinschlängelt, wird man ihn kaum als ‘tönend, rauschend’ bezeichnet haben, einen Sturzbach im Gebirge aber eben durchaus. Aber bei dem Fluss im Gebirge wäre dann wiederum beides möglich.

47 Vgl. EWAia 1, S. 68.

48 Nach Rix 1970, MSS 27, S. 100 f.

49 Vgl. AnEW, S. 687; ÍO, S. 1224.

50 Vgl. EDG, S. 425 f.

51 Vgl. ebd., S. 1047 f. mit weiterer Literatur.

52 Vgl. EWAia 1, S. 68 f. – Die Interpretation dieser Formen ändert sich natürlich, falls Tremblay 2010 Recht hat mit seiner Theorie, dass auslautendes uridg. *-n zu * wurde.

53 Oettinger 1983, S. 141. – An dieser Stelle tritt das Verb gam- ‘kommen’ mit dem in Tmesis stehenden Präverb us ‘heraus, hervor’ zusammen auf: Hier läge dann so etwas wie eine semantische figura etymologica vor.

54 Vgl. Rix 1996, S. 156; Meiser 1998, S. 105 f. — Für das Keltische sind evtl. einige Fälle von Vokalisierung anlautender einfacher bzw. doppelter Laryngale vor Konsonant (uridg. *(H)HK- > urkelt. *aK-) bezeugt (vgl. Zair 2012, S. 53–55), allerdings bestehen für diese Lexeme auch andere Erklärungsmöglichkeiten, so dass wohl insgesamt eher mit uridg. *(H)HK- > urkelt. *K- zu rechnen sein dürfte.

55 Dieser letzte Vorschlag wirft ein weiteres Problem auf, nämlich die Frage danach, ob a-haltige Wurzeln überhaupt ablauteten – und wenn ja, wie. Beispiel für einen Ablaut *a : *ā lassen sich durchaus finden, für zugehörige Schwundstufen wird die Sache dann schon schwierig. Zudem würde es sich in unserem Fall dann definitiv um eine Wurzel handeln, die sonst nicht belegt wäre – von der hier vorliegenden germanisch-iranischen Isoglosse abgesehen. Eine gesicherte Bedeutung der Wurzel könnte man unter solchen Umständen wohl schwerlich angeben.

56 Sollte die Herleitung von *Ag(a)rā u. ä. aus der Wurzel uridg. *h2eg´- ‘treiben’ zutreffen und hier zumindest in einigen Fällen spätidg. *agro- zugrunde liegen, entstünde dasselbe Problem: Morphologisch zu erwarten wäre uridg. *h2g_-ro-, so dass *agro- entweder die Vokalisierung des Laryngals der schwundstufigen Form zeigt, oder eben eine andere Ableitung von dieser Wurzel vorliegt. Da nun ahd. ackar, lat. ager, ai. ajra- etc. auf uridg. *h2eg´ro- zurückgehen, aber alle ‘Acker, Trift’ bedeuten, wird man für jene Gewässernamen ungern dieselbe Etymologie annehmen wollen. Auch hier besteht noch Klärungsbedarf.

57 Vgl. etwa Udolph 1990, S. 204–211; Udolph 2002.

58 Vgl. Greule 2008, S. 70 f., und DGNB, S. 384 f., den Artikel „Oder“: entweder aus spätidg. *udro/ā- zur Wurzel uridg. *-ed- ‘Wasser’, das dann ins Germanische übernommen wurde und Senkung des Vokals in der Wurzelsilbe erfahren hätte und von dort ins Slawische gelangt sei, oder aus uridg. *h1duh-ro- (zu der Wurzel, die auch im Wort Euter steckt) > urgerm. *udra-.